Warten oder Fliegen – Die ‘Power’ des Zeichenstiftes im Werk des Amateurs
Als die 68er Kuba noch als Insel der Zukunft feiern, erlebt Diango Hernández Castros ‘Vision’ vom neuen Menschen in einer Internatsschule auf dem Land als Alptraum. Auch wenn er seine eigenen Texte wie die seiner Interpreten mit zahlreichen Deutungsmöglichkeiten aus dem kubanischen Alltag versieht, diese wie alle weiteren Erfahrungen in seinem Heimatland werden zum Brennpunkt in einem kreativen Kosmos, in dem ‘Kuba’ mehr ist als ein politischer Fall – und mehr als ein ‚Geburtsort’, auf den man verzichten kann.
1988 beginnt Hernández ein Studium in Havanna. Noch keimen Hoffnungen auf Befreiung aus den kollektiven Verordnungen. Sie verblühen schnell und mit ihnen auch sein Traum vom Schriftsteller. Als poetische Leitmelodie klingt er bis heute nach. Der Alltag reduziert die Hoffnungen auf die Zwänge des nackten Überlebens. Utopien kann man nicht essen, schon gar nicht die Durchhalteparolen der vergreisenden Revolutionsakrobaten, die die selbst von der Sowjetunion ‚verlassene’ Musterinsel reicher besetzen als die Dinge des täglichen Bedarfs. In der allgegenwärtigen Mangelgesellschaft bietet ihm das Studium des Industrial Design eine berufliche Perspektive.
Die Kreativität der Überlebenstaktiken einer – an der Oberfläche eher sprachlosen – Bevölkerung liefert dem Gestalter schnell bessere Muster als das verordnete Zukunfts-Design. In dieser Situation richtet er sich als Beobachter ein, sammelt und filtert aus dem Gegebenen der alles überrollenden Parolen die Relikte gescheiterter Träume, übersetzt sie mit subversiver Distanz in poetisch codierte Entwürfe einer doppelbödigen Wirklichkeit, die sich jeder selbstgewissen Spezialistenrhetorik entzieht. Aus der Erfahrung des Scheiterns großer Utopien, die andernorts zum frustrierten Rückzug aus den gesellschaftlichen Implikationen künstlerischen Handelns führt, filtert der Beobachter – in subversiver Umdeutung der ‚freien’ in eine Form von angewandter Kunst – seine aus dem gewöhnlichen Alltag gespeiste Imagination von außergewöhnlichen “Kathedralen“.1
Das Recycling von Rohren und Kabeln, von Möbeln und Kleidern, schließlich auch von Sprache und Bildern in der Werkstatt kreativer Amateure findet Eingang in ein „Gabinete Ordo Armoris“. Unter diesem vieldeutig mit der Liebesordnung von Thomas von Aquin spielenden Gruppennamen starten Diango Hernández, Francis Acea, Ernesto Oroza und Juan Bernal (bis 1996) ein Projekt, das der lähmenden Wirklichkeit der verordneten Revolution eine in der alltäglichen Wirklichkeit aufgelesene Sammlung nützlicher Dinge vorführt, deren kreatives Potential aus sich selbst heraus „entschied Kunstwerk zu werden“ 2 Damit ist ‘seine’ Vision vom Museum als Ort der Aufbewahrung und Labor individueller Gestaltungsformen wie kreativer Koproduktion im Werk verankert.
Im Studio wächst ein Archiv von Provisorien. Der Beobachter führt Tagebuch. In diese Zeit datieren hunderte von Zeichnungen. Mit der wohlfeilen Gleichsetzung von Unmittelbarkeit und individuellem Stil haben diese Zeichnungen wenig gemein. Eher erscheinen sie als ein durch die Aufzeichnung des Künstlers und Forschers gefiltertes Sprechen in den vielen Zungen von individuellen Bastlern, um „die eigene Lähmung zu überwinden“.3
Als Hernández 2003 sein Heimatland verlässt, besteht sein Gepäck tatsächlich wie sinnbildlich aus dem ‘Tagebuch’ der gesammelten Zeichnungen. Das System wehrt sich, nicht weil es sich dem Kunstexport widersetzt. Künstler sind privilegiert bei der Ausreise, solange sie nichts mitnehmen, was mit eigenständigem Text zu tun hat. Also löscht das System die Texte. Aber “die Zeichnung ist in ihrer Ungegenständlichkeit fruchtbarer als ein wirkliches Ding. Sie transformiert sich Tag für Tag… auf einem Feld ungerichteter Kräfte… dank einer der Zeichnung selbst eigenen Imagination.” 4 Solche Imaginationen unterlaufen die Kontrolle von Profis an jeder Grenze. Seine Route führt über Italien nach Deutschland. Die Begegnung mit Anne Pöhlmann, mit der er seither immer wieder zusammen arbeitet, führt ihn nach Düsseldorf. “Home is Anywhere”5 Die Heimat des Amateurs ist das “Tagebuch” der ungerichteten Kräfte, eine sich immer weiter füllende Schatzkammer der Imaginationen und Entwürfe von Existenzen im Zustand des Provisorischen.
So ist es nur konsequent, wenn die Sammlung des “Amateurs” bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt 2003 die Galerie Frehrking Wiesehöfer in eine Art Schwebezustand zwischen Werkstatt und grafischem Kabinetts versetzt. „Selbstporträts, illusionäre Architekturen und Städte, Projekte, die nie realisiert werden sollen“6, fluten die Wände wie Irrlichter skurriler Träume, vergessener Botschaften, paradiesischer Schönheiten und vieldeutiger Drohungen. Wer das mit Zeitungspapier geflickte Schirmgestell hier abgestellt hat, lässt sich so wenig ausmachen wie der Besitzer der Schuhe, in denen allerhand demodierte Versatzstücke der Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie stecken. „ART has to wait“ ist so unauffällig unter die vielen Blätter geschmuggelt, dass die Schreibweise – wie so manches in diesem Werk – erst im Nachhinein zündet. Sind die Großbuchstaben Ausdruck von Verehrung? Oder ist das Warten all jenen verordnet, die selbst die Krise aller Utopien als signierte Aktie vermarkten? Der Amateur überlässt dem Betrachter die Antwort. „Warten“ hat der Künstler als den ureigenen Zustand von Kuba bezeichnet. Im übertragenen Sinne ist es das in den Zeichnungen kondensierte Begehren, der “Wunsch, das Verborgene hinter den Wirklichkeiten”7 sichtbar zu machen, den in den Bruchstücken von zerschlagenen Träumen eine Sprache zu verleihen.
Der Amateur muss nichts mehr erfinden. Was er von seinen Entwürfen 2005 in Mönchengladbach im „Museum of Capitalism“ ausbreitet, unterminiert die Tauglichkeitskriterien aller Systeme. Eine Existenz im Provisorischen ist den selbstgewissen Profis fremd, die Imagination von Liebhabern und Bastlern, deren Entwürfe für ein eigenes Universum sich jeder Kontrolle entziehen, ist ihnen suspekt.
Wie viele Treffer gibt es für „freedom“? 136 Millionen findet Hernández 2005 in der amerikanischen Version von Google. Was sich von dieser Liste unterbringen lässt, ziert als Tapete das Treppenhaus. Die Preziosen des ‚freien’ Denkens prallen knallhart auf die groben Klötze einer alles und jedes vermarktenden Zweckgesellschaft. Der Weg durch das “Museum of Capitalism” führt vorbei an vertrauten Alltagsgegenständen, denen der taugliche Platz oder die Ersatzteile abhanden gekommen sind: Schultische stehen auf der Kante, versperren den Weg – zu dröhnendem Stimmengewirr aus dem off; aus einem alten Radio wuchern Drähte wirr in den Raum. Die ausrangierten ‘Sender’ der politischen und ökonomischen Verführung sind leer. Sie posieren wie Bausätze in einem Spiel mit Buchstaben aus verschlissenen Parolen, deren Fragmente sich zu Worten frei zirkulierender Botschaften formen. So wie jener Satz auf einem Zettel neben einem geschlossenen Plattenspieler: “There are many things in the air and all of them are for free”. Die Platten haben sich davongemacht, schweben wie eine Wolke über die Wand. Zeichnungen, Zettel auf verschlissenen Alltagsgegenständen, Besen, Rohren, Gullis verflüssigen Worte im undefinierbaren Echo aus dem Universum verlorener Träume. Mit „ready mades“ haben diese Fundstücke wenig gemein. Die den ruinösen Formen immanente Aura überschwemmt das normierte Wissen mit Imaginationen eines „real maravilloso“, das dem poetischen “Kapital” einer „sozialen Skulptur“ von Beuys näher steht als den vielen Rezeptionsvarianten von Duchamps. Das Schweigen von Duchamps werde überbewertet, so Joseph Beuys 1964. Die Gehäuse sind zwar leer. Die Antennen empfangen nichts. Die Rohre leiten nicht. Aber sie schweigen nicht. Sie warten. Unter all den ‘provisorischen Existenzen’ in den Sammlungsräumen des Amateurs findet sich ein aus Abflussrohren gebasteltes Stück. Der in Versalien geschriebene Text „Any kind of hope is a luxury and any kind of luxury is a hope“ verläuft um die Ecke wie die vielen spielerisch hingeworfenen ‘Entwürfe’ aus dem Tagebuch der noch nicht oder nie zu erfüllenden Hoffnung auf Freiheit. Kollektive wie individuelle Liebesordnungen durchziehen die Geschichte der Menschheit in vielen Varianten. Jedes System plündert deren Vorrat, formt das Vertraute zu Phrasen ohne Sprache. Der Amateur chiffriert die verbliebenen Träume in provisorischen Sätzen, Bildern und Gegenständen für flüchtige Auftritte in einem „Museum of Capitalism“, dessen ‘Kapital’ er in den Aufzeichnungen ihrer Tagebücher bereithält.
Der andauernden Debatte über die Institutionen begegnet Hernández mit einer Hommage an das Museum als Schatztruhe, Archiv und Labor. Die Muster politischer und ökonomischer Verführung sind ihm – auch aus seiner Erziehung – vertraut; er nutzt sie in seiner Sprache, um „die Stille der Geschichte zum Sprechen zu bringen und all ihre Kodifizierungen auf den Kopf zu stellen.“8
In der Werkstatt des „Amateurs“ zählt, was in irgendeiner Weise zur Sprach-, Ton- und Bildkommunikation im vice versa von Sender und Empfänger dienstbar ist, als ‚Transmitter’, um die Geschichte gescheiterter Träume weiter zu erzählen und den aus den ‚Hinterlassenschaften’ gefilterten Luxus der frei zirkulierenden Imaginationen ‘seinem’ Museum der Amateure anzuvertrauen. Im Kunstverein Arnsberg rotieren 2004 Ansprachen von Präsidenten samt Ovationen auf sechs Plattenspielern und erzeugen nichts anderes als eine Raum füllende Kakophonie. Edel gerahmte weiße DINA4 Blätter zeigen nichts weiter als deren Signatur. Ob sie und was sie wirklich unterzeichneten, bleibt offen. Auf einem Ständer hängen Zeitungen wie Kleidungstücke in Kaufhäusern oder in Garderoben abgelegte Mäntel. Die Parolen – auch die von der Macht des Geldes – kreisen in „D€mocracy“ im Leerlauf.
Auf der Biennale von Venedig 2005 leisten gewaltige Strommasten ihren Beitrag zur Unterstützung der Videoinstallation “Palabras”. Sie stehen auf dem Kopf. Die zerrissenen Kabel stecken noch in den Transformatoren aus Porzellan, Fundstücke wie die Sprache selbst – aus der „glorreichen“ Zeit von Systemen, die Fortschrittsparolen wie Kommunismus = Elektrifizierung nicht überlebt haben. Die Deklamation wird überspült von Minas „E penso a te“ aus 1978. In diesem Jahr zog sich die italienische Popsängerin, die die allmächtige Kirche und ihre Helfershelfer schon in den 60ern von den Bildschirmen verbannten, aus der Öffentlichkeit zurückzog. Hier wie 2009 in “Losing You tonight” ist eine nicht (mehr) anwesende Person Teil poetischer Kommunikation.
Der Amateur muss nicht zwischen den Systemen unterscheiden. Wenn die Parolen in „D€mocracy“ und die unbefugt mitgeschnittenen Telefongespräche amerikanischer Präsidenten, die in „Spies“, 2006, ausgeleuchtet oder geschützt von heimeligen Lampenschirmen auf Plattentellern rotieren, in den Kabinetten eines widerständigen „Ordo Amoris“ überspielt werden, unterscheiden sie sich nicht so sehr von den “Palabras“ der Volksrepubliken. Der labile Boxenstapel auf der Tischkante taugt weder als Schutzwall noch als Tonträger oder -Empfänger. Auf dem Stuhl sitzt niemand. „Nach einiger Zeit ist Demokratie nur eine weitere Utopie, aber ich träume längst in einer besseren Utopie.“ 9 Vielleicht so wie in den Zeichnungen, die er 2004 unter dem vieldeutigen Titel „Please draw me again“ im Westfälischen Kunstverein zeigt: Auf einem der Kinderbüchern nachempfundenen Blätter jagt ein kleines Mädchen mit einem Fangnetz hinter Schmetterlingen her. Einer hat ein Gesicht. Zwischen den Schmetterlingen taumelt ein leeres Blatt. „Nur der Imagination von Kindern gelingt das Bild einer doppeldeutigen, einer fantastischen Wirklichkeit.”10
2006 folgen einige Ausstellungen mit politisch aufgeladen Titeln: „Dictators“ bei Frehrking Wiesehöfer, „Traitors“ bei Pepe Cobo und schließlich „Revolution“ in der Kunsthalle Basel. In „Drawing („As a drop I am going out of my home“ durchbohren eiserne Leitungsrohre Büro- und Wohnmöbel, Bilder, Schallplatten, Teller und Lampen. Wo der Besucher eintritt, ragt der Wasserhahn aus einer Tür. Ob die Rohre noch Wasser leiten oder nicht, in diesem um einige Ecken und Biegungen ‘gezeichneten’ System verharren alle ‘Tropfen’ in einer zu nichts verfügbaren Schwebe – eben so wie der Stuhl mit den gestapelten Dachziegeln, der ohne Kabel wohl kippen würde. Der Stuhl ist in diesem Kosmos omnipräsent.
Was fürchten Diktaturen mehr: Die Macht der Bilder oder die Macht der Worte? Hernández versteht es, mit beiden auf subversive Weise zu jonglieren. Ein Buchstabe kann so bildmächtig werden, dass er die Besitzer der Parolen das Fürchten lehrt. Das V – weltweit als öffentliche Skulptur mit bloßen Händen geformt – behauptet seine Größe in der melancholischen Video-Arbeit „!VICTORIA!“. Die schwarzen Blockbuchstaben von einer Werbetafel verblassen einer nach dem anderen auf den Mauersteinen, leuchten wieder auf und so weiter. Auch die „Revolution“, in Basel in der sozialistischen Propagandaästhetik der 70er Jahre ‘plakatiert’, hat viele verschiedene Bedeutungen – vor allem für Nichtkubaner.
2007 pulverisieren „Power Pencil“ und „Swans without a Lake“ die marode Macht aller Systeme mit einer kaum zu übertreffenden poetischen Radikalität. In der Galerie Paolo Maria Deanesi liegen die Strommasten, die in Venedig noch in voller Länge posierten, wie Stückwerk herum. Einige sind angespitzt, die Spitzen schwarz eingefärbt. Von einer Rolle nagelneuer Kupferkabel führt ein Strang zur Decke. Was sind diese Werkzeuge, für die kein Wörterbuch eine eindeutige Übersetzung liefert. Sind es Stifte der Macht? Oder sind die Stifte die Macht, die Macht der Zeichen? Um welche würde es dann gehen? Könnte der „Power Pencil“ das Haus entwerfen, das Hernández “irgendwo bauen würde, wenn er fliegen könnte.”11 Erweitert wird die Installation durch suggestive architektonische Entwürfe – und eine Publikation. Für die, die Bücher nicht nur als zwischen zwei Deckeln gespeicherte Ansammlung von Text oder Bildern begreifen, hat das eher bescheidene oder intime Werk, das Aussehen von christlichen Gebet- und Gesangbüchern. Den schwarzen Einband zieren die goldenen Lettern des POWER PENCIL, darunter verschwindend klein der Name des Autors. Drinnen unter der Widmung an „Mami, mi Hermano y Anne“ die poetisch verschlüsselte Handlungsanweisung, die linke Hand an einer sicheren Stelle aufzubewahren, bis sie diese wieder nutzen können. Dem Innentitel „Ricordo di Cuba“ folgt ein Interview mit dem Künstler und ein Essay von Luigi Meneghelli, deren spanische Fassung auf einer altertümlichen Schreibmaschine geschrieben ordnungsgemäß auf die Seiten gesetzt ist, wohingegen man zum Studium des heute gängigen Computergenerierten englischen Textes das Buch um 90 Grad drehen muss. Die Macht des Stiftes ist die des Tagebuches. Nur wenige Blätter sind mit Datum ausgewiesen. Jahresangaben gibt es – wie in Kalendern üblich – nicht. So bleibt offen, ob es sich um (Auf)-Zeichnungen vor oder nach seiner Ausreise handelt. Die Form der Publikation verleiht dem Buch die Aura eines Schatzes von angefangenen oder abgebrochenen Erzählungen über Gestaltungsimaginationen, über Entwürfe im Wartezustand zwischen zerschlagenen Utopien und unerledigten Architekturen für Häuser im noch nicht oder nicht mehr definierbaren ‚anywhere’ universeller Träume. Ein goldgelbes Band hilft anzuhalten… Es mag an der auffälligen Sorgfalt seines Umgangs mit dem Medium Buch liegen, die sich nicht nur im Falle von Power Pencil beobachten lässt, dass sich der auratischen Suggestion alsbald die eher nüchterne Variante der im digitalen Zeitalter verschwindenden handlichen Wörterbücher widersetzt, in denen man nach der Bedeutung des Fremden oder der dem Fremden zugängigen Übertragung des Eigenen sucht. Ein Kurzschluss mit dem unterkühlten ‚digitalen Wörterbuch’ von Google im „Museum of Capitalism“ treibt die je eigenen Imaginationen suggestiv voran.
Das Buch ist eine Art Museum der Worte zwischen Buchdeckeln. Was vermag der „Power Pencil“, wenn die Drähte lose herumliegen wie die Linien auf weißen Blättern. Vor allem, was machen die Schwäne aus dem Tagebuch, wenn die Systeme ihren See austrocknen?
Nie zuvor hat Hernández seine biografische Erfahrung derart minimalistisch karg und poetisch beschwingt inszeniert wie 2007 in „Swans without a lake“ im Aachener Kunstverein. Formal ist diesmal nahezu alles neu. Nur, wie lässt sich die weltweit im kulturellen Gedächtnis gespeicherte Sage von der Erlösung der Schwanenprinzessin aus dem Bann des bösen Zauberers zum Klingen bringt, wenn die Schwäne den See verlassen haben? Im Tagebuch des “Power Pencil” findet sich eine Zeichnung “Swans without a Lake”. Sind es Blätter oder flache Kartons oder Wasserbehälter, die herunterfallen unter einem Gegenstand, von dem nicht auszumachen ist, ob es sich um eine Laterne, eine Brause oder gar ein Mikrophon handelt. Eine Seite zuvor findet sich eine Skizze für einen „Lake without Swans“. In Erinnerung an den „Brunnen der Jugend“ auf dem zentralen Platz in Havanna entsteht ein See aus rostigem Stahl. Im Wasser liegen vereinzelte Buchstabentasten alter Schreibmaschinen wie Münzen in Brunnen unerfüllter Wünsche. Die neben- und untereinander gehängten leeren Blätter der „Wet Wall“ wölben sich unter dem Einfluss von Wasserspritzern. Im oberen Ausstellungsraum ist ein Kino eingerichtet. Auch dies verweist auf einen biografisch relevanten Ort. Als im Cine Yara in Havanna 1991 „Alice in Wonderland“ läuft, wird es zur Bühne eines spontanen real-time Films, in dem ein Notizbuch mit einer von Stuhl zu Stuhl wachsenden Zahl von Unterschriften durch die Reihen wandert. 1991 enden beide ‚Filme’ zeitgleich. Die Stühle in Aachen sind leer – leer wie unvollendete Skizzen aus metallenen Linien. Niemand sitzt hier, während der Projektor die flackernde Montage historischer Elogen auf die Leistungen der sowjetischen Mondlandung mit Laika abspult. Der Hund hat die Traumreise nicht überlebt. Das Kino und der Brunnen liegen – wiewohl weit voneinander entfernt – nahe am Strand, wo Kubaner vom Untergang sozialistischer Sonnensysteme träumen oder ihre aus Vehikeln gebastelten Boote gleich ins offene Meer schieben. “Taxi Limosina”, ein Prototyp, ‘landet’ 1998 im Ludwigforum in Aachen.
„Swans without a Lake“ ist – bislang – die reduzierteste Inszenierung wandernder Träume. Nicht die Tatsache, dass er – wie schon 2006 in der Installation “We are unfinished drawings” für die Biennale in Sao Paulo – auf das vorgefundene ready made verzichtet und das eigens Hergestellte mit einer Patina des Verfalls überzieht, es ist die auch durch die Lichtregie vibrierende Leere in den melancholischen „Bildräumen“, die einen unwiderstehlichen Sog ausübt. Kuba ist eine Insel der unablässigen Übergänge, “alles vermischt sich mit allem und jedem und alles beeinflusst alles und jedes.”12 Die kubanische Seele sei kreolisiert. Vielleicht ist Kuba der verlassene See und die Schwäne die Seelen auf der Suche nach einem Ort für Amateure und träumende Kreolen.
2009 findet sich in „Losing You tonight“ ein eher unauffälliges Foto. Eine Person versteckt sich hinter einer riesigen schwarzen Muschel. Diese Gehäuse warten nicht mehr auf ihre einstigen Bewohner. Sie sind einfach da, angeschwemmt für viele Amateure auf der Flucht vor dem banalen Alltag normierter Systeme.
Im Museum für Gegenwartskunst klingt der Titel wie der Anfang eines von Raum zu Raum weiter getragenen Gedichtes für einen in den Hinterlassenschaften von Schulen, Museen und festlich geschmückten Zwischenräumen verborgenen Liebhaber. Im Klassenzimmer sind die Stühle auf den Tischen platziert, von den Stuhlbeinen ragen hier und da Neonröhren wie Finger in die Luft; vorne, wo sonst die Tafel hängt, drei graue Flächen, Abreibungen des „Power Pencil“ auf der Wand. Wenige Bilder schmücken den Raum, darunter ein Sonnenuntergang, “vielleicht der schönste unbestimmte Augenblick in der Natur. Ich dachte, es könnte großartig sein, die Sonne anzuhalten, bevor sie ins Meer fällt, aber wer möchte schon unablässig im Sonnenuntergang leben?”13
Der Raum ist hell, was umso mehr ins Gewicht fällt, als der Weg dorthin durch einen abgedunkelten Raum mit rätselhaften Schattenbildern auf dem Boden führt. Das Licht fällt aus rundum an der Wand auf einer Glasscheibe verteilten hölzernen Kuben. Im Zentrum posiert einer jener edlen Jünglinge, deren kraftvolle Eleganz so manches revolutionäre Erziehungsbild ‚dekoriert’ hat. Aus der Ferne erscheint die Porzellanskulptur in der Vitrine kopflos. Tatsächlich ist der Kopf bemalt – schwarz wie die Schatten unter den Kuben, die ihre Herkunft so wenig preisgeben wie die zum Sockel gestapelten Lautsprecher ihren Ton. Kann ein grafisches Kabinett schöner klingen und eine Schule mehr erzählen? In dieses karge Pingpong aus vorgefundenen Einrichtungsgegenständen – für die Schule – und edlen Leuchten in der Tradition minimalistischer Objekte fügen sich die fragile Gefäßen aus Lampenschirmen auf Tischen und Mono-Schallplatten in Regalen, die edel gerahmten Textpassagen der Revolutionsverheißungen und die mal mehr mal weniger informationsbereiten Bücher zu einer Dichtung, deren Strophen auch diesmal einem biografischen Subtext folgen: dem Verlust eines Freundes, der im Schlafraum nur einen Zettel hinterließ. Die Geschichte muss man so wenig kennen wie die aus dem Cine Yara. Auf die eine oder andere Weise kreisen diese Erzählungen ohnehin durch diese Räume im Wartezustand, ganz so wie die Dia-Projektion der Entwürfe eines Wohn-, Schlaf- und Arbeits-Raumes ohne bestimmbaren Nutzer.
„Goldene Zeiten“ heißt die Ausstellung im Haus der Kunst, in der Hernández Castros Regierungszeit wie ein zum rostigen Dekor geschrumpftes System vorführt. Durch „Years“, 2008, ein in den Raum gezeichnetes Gitter aus Jahreszahlen von 1959 bis 2008, fällt der Blick auf eine Wand voller leerer Blätter und zu Medaillons geronnener Relikte aus dem ‘illustrierten’ Leben der Kennedys. Ein Stuhl mit zwei Beinen hält sich mittels eines Kabels an einer Sektflasche aufrecht. Im verlassenen Schreibtisch versinkt wieder eine dieser Sonnen im postkubistisch-sozialistischen Stil. Mit Geschichtsschreibung hat das so wenig zu tun wie die Revolutionsparolen mit Utopien oder Träumen von Goldene Zeiten für Amateure. „Ich möchte mit dem Wort ‘Kunst’ spielen. Ich möchte verführen und den Leuten Ideen näher bringen, so dass sie realisieren, dass es furchtbare Ideen sein können – auch wenn sie wunderschön sind.“14 Es ist wohl der Luxus wandernder Schwäne mit kreolisierten Identitäten oder des Power Pencil, dessen Entwürfe – mal als preziose Einzelstücke, mal in Gruppen vernetzt oder aneinander gereiht wie Satzteile – durch die vielen Verzweigungen von Strom- und Wasserleitungen in poetische ‚Imaginationen’ von Räumen fließen, die der normativen Ratio der rechten Hand verschlossen bleiben.